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Pratyahara: Bedeutung, Arten & Anwendung im Alltag

Pratyahara

Pratyahara: Bedeutung, Arten & Anwendung im Alltag

Vor einer wichtigen Entscheidung spielt sich alles mögliche in unserem Kopf ab. Pro- und Contra Listen, Zweifel, Wünsche… je mehr wir nachdenken, desto schwieriger fällt es uns, zu entscheiden. Mit der Hoffnung auf mehr Klarheit fragen wir noch ein paar Freunde, Familienmitglieder oder Bezugspersonen und merken schnell, dass wir nun überfordert sind.

In diesem Moment haben wir den Bezug zu uns selbst verloren. „Was will ich eigentlich?“ Laut wissenschaftlichen Studien erhalten wir die besten Lösungsansätze, wenn wir das Problem für einen gewissen Zeitraum erstmal beiseitelegen.

Mit einer bestimmten Technik kannst du lernen, den Lärm von außen ganz bewusst zu reduzieren und wieder zu dir selbst zu gelangen. Wie genau das funktioniert und wie du es ganz einfach in deinen Alltag integrieren kannst, erklären wir dir anhand der Lehre der Pratyahara.

Was ist Pratyahara?

Das Wort Pratyahara aus dem Sanskrit kombiniert “prati” (gegen oder weg) und “ahara” (Nahrung, äußere Einflüsse). Darunter wird eine Praxis verstanden, die uns lehrt, äußere Reize bewusst auszublenden.

Pratyahara ist der fünfte Pfad im Achtgliedrigen Pfad des Yoga und bedeutet wörtlich “Rückzug der Sinne“. Die Fähigkeit, den Fokus nach innen zu lenken.

Um Pratyahara besser zu verstehen, denke an Shavasana, auch bekannt als die Totenhaltung, mit der jede klassische Yogastunde endet. In dieser Rückenlage auf dem Boden geht es in der ersten Phase zunächst um die körperliche Entspannung. Während du liegst, spürst du, wie sich deine Muskeln nach und nach lockern, der Atem vertieft und der Körper vollständig entspannt.

In der zweiten Stufe von Shavasana tauchst du ein in das absolute Nichtstun und ziehst dich von der Außenwelt zurück.

Vielleicht kennst du das: Du fühlst dich wie am Grund eines Brunnens. Du nimmst die Geräusche um dich herum wahr, doch sie stören weder deinen Körper noch deinen Geist.

Dieses Erlebnis wird als Pratyahara bezeichnet. Pratyahara bedeutet, dass du die Sinnesreize registrierst, aber nicht darauf reagierst. Es entsteht ein Raum zwischen dem Sinnesreiz und deiner Reaktion. Dieser Zustand kann aber auch außerhalb deiner Yogapraxis im Alltag erreicht werden. Momente, in denen du vollständig in einer Aufgabe versinkst und die Welt um dich herum vergisst, ähnlich dem Zustand des ‘Flow’, wird als Form von Pratyahara betrachtet.

Die Bedeutung von Pratyahara im Alltag

Wo fließt deine meiste Energie hin? Die Außenwelt hat unsere größte Aufmerksamkeit. Wir identifizieren uns mit Sinneseindrücken und unserer konditionierten Persönlichkeit. Ein gutes Beispiel für Pratyahara ist unser Selbstbild und wie wir uns der Welt präsentieren wollen. Ständig fragen wir uns:

„Wie sehe ich aus?“

„Wie werde ich wahrgenommen?“

„Wie möchte ich wahrgenommen werden?“

Dieses ständige Gedankenkarussell raubt uns oft viel Energie im Laufe des Tages. Doch es bedeutet nicht, dass wir uns nicht um unser Äußeres kümmern sollten oder unsere Individualität nicht zelebrieren dürfen. Es geht darum, sich bewusst zu werden, WIE VIEL Energie wir in die Schaffung dieses äußeren Bildes investieren.

Pratyahara zu praktizieren bedeutet nicht, vor äußeren Reizen wegzulaufen. Selbst in einer Höhle in den Bergen, abgeschottet von jeglichem äußeren Reiz, könntest du immer noch Gedanken erzeugen, die dein Nervensystem in Unruhe versetzen.

Pratyahara zu praktizieren bedeutet vielmehr, inmitten von Chaos zu verweilen und bewusst zu wählen, WIE du darauf reagierst.

Arten von Pratyahara

Pratyahara verschmilzt mit Asanas, Dhyana und Pranayama und bildet einen entscheidenden Teil des Yoga-Gesamtpakets.

Durch Pranayama ziehen die Sinne sich spontan zurück. Ein gleichmäßiger Atemfluss, wie bei verschiedenen Pranayama-Techniken erreicht, lenkt den Geist nach innen und die Aufmerksamkeit auf die Bewegung des Prana im Körper.

Vier Arten von Pratyahara:

  1. Äußerer Pratyahara (Bahya Pratyahara): Kontrolle der Sinne durch Reduzierung äußerer Reize und Schaffung einer ruhigen Umgebung.
  2. Innerer Pratyahara (Antar Pratyahara): Lenkung der Aufmerksamkeit nach innen, um sich von äußeren Sinneseindrücken zu distanzieren.
  3. Matrika Pratyahara: Rückzug der Sinne durch Fokussierung auf innere Klänge, wie bei Mantra-Rezitation.
  4. Hridayakasha Pratyahara: Rückzug in den Raum im Herzen, symbolisch für den innersten Kern des Selbst.

Integration mit Yoga-Elementen:

Pratyahara zielt nicht darauf ab, Sinneserfahrungen zu unterdrücken, sondern sie zu kontrollieren. Die Praxis legt den Grundstein für Meditation und Selbstverwirklichung.

Die gute Nachricht ist: Durch Pratyahara kannst du Stufen wie Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und sogar den Zustand von Samadhi (spirituelle Vereinigung) erreichen.

Zu Beginn kann es dir schwierig erscheinen, deine Pratyahara-Praxis in dein tägliches Leben einzubetten. Wenn du deinem Leben jedoch Sinn und Richtung verleihen möchtest, bieten dir die Praktiken eine wundervolle Möglichkeit dazu.

Praktische Anwendung von Pratyahara im Alltag

Deine tägliche Pratyahara-Praxis könnte so aussehen:

Bewusstseinslenkung: Beginne den Tag mit einem bewussten Fokus auf deine inneren Empfindungen anstelle der äußeren Welt. Denke direkt nach dem Aufwachen an drei Dinge, für die du gerade dankbar bist.

Medienbewusstsein: Überprüfe, wohin deine Aufmerksamkeit fließt. Reduziere den Konsum von Nachrichten, Social Media und anderen Reizen, die deine Emotionen und Gedanken beeinflussen. Weniger ist oft mehr, wenn es darum geht, den Geist zu beruhigen.

Achtsamkeit während der Yoga-Praxis: Notiere, was dich während dem praktizieren von Asanas oder einer Meditation ablenkt. Das Bewusstmachen hilft dir zu verstehen, was wirklich wichtig ist und welche äußeren Einflüsse du minimieren möchtest bzw. kannst.

Kerzenflammenkonzentration: Setz dich bequem hin und stelle eine brennende Kerze auf Augenhöhe auf. Richte deinen Blick auf die Flamme und konzentriere dich ausschließlich auf sie, so dass alle anderen Gedanken und Ablenkungen verblassen. Ziel ist es, den Geist von äußeren Sinneseindrücken abzuschirmen und den Fokus ganz auf die Flamme zu setzen.

Beobachtung ohne Bewertung: Übe bewusstes Beobachten über den Tag hinweg, als wärst du eine Person aus dem Publikum. Lass Gedanken kommen und gehen, ohne dich an sie zu binden.

„Große Ziele erreicht man, indem man viele kleine Schritte geht.“

Hindernisse beim Praktizieren von Pratyahara

Neue Herausforderungen sind wunderbare Gelegenheiten, Neues über sich selbst zu erfahren.

Hier sind 5 Grenzen, an die du bei deiner Pratyahara-Praxis stoßen könntest und wie du sie überwinden kannst:

Gedankenwirrwarr und mentale Unruhe: Der Geist neigt dazu, ständig aktiv zu sein, was den sensorischen Rückzug erschwert. Ständiges Denken und Planen können die Praxis beeinträchtigen.

Tipp: Schaffe bewusste “stille” Momente im Tag. Blocke dir ein Zeitfenster und ziehe dich an einen ruhigen Ort deiner Wahl zurück, ohne Technologien.

Gewohnheiten und Konditionierung: Automatische Reaktionen auf Sinnesreize sind oft tief verwurzelt. Gewohnheiten wie impulsives Handeln oder emotionales Essen können Pratyahara behindern.

Tipps: Nutze das kurze Zeitfenster, bevor du auf einen Reiz reagierst und identifiziere deine Gewohnheiten. Frage dich, ob diese Reaktion im Einklang mit deinen Zielen steht.

Äußere Einflüsse und Beziehungen: Äußere Umstände, Situationen oder Beziehungen nehmen oft viel Aufmerksamkeit in Anspruch und die damit verbundenen Konflikte und Dramen kosten uns häufig unsere innere Ruhe.

Tipp: Wenn du viel mit Menschen zu tun hast, setze deine Grenzen bereits früher. So bewahrst du deine Energie, reduzierst unnötige Dramen und verstreust deine Aufmerksamkeit nicht überall.

Ungeduld und Frustration: Es kann dauern, bis du aus deiner Pratyahara-Praxis Erfolgserlebnisse spürst. Schnelle Ergebnisse zu erwarten, kann zu Frustration führen.

Tipp: Denke jeden Abend vor dem Einschlafen an eine Sache, auf die du heute stolz warst. Jeder kleine Fortschritt ist ein Sieg und sollte anerkannt werden.

Zeitmangel: Zeit ist unser größter Feind, wenn es um das Aufschieben wichtiger Aufgaben geht. Familie, berufliche und soziale Verpflichtungen werden meistens priorisiert und uns selbst stellen wir hinten an.

Tipp: Selbst kurze Momente der Achtsamkeit können einen positiven Effekt haben. Zu jeder Tageszeit kannst du ein Mantra sprechen, auf eine bewusste Atmung achten oder visualisieren, wie Licht durch dich durchströmt und dich erfüllt.

Pratyahara und emotionales Wohlbefinden

Wie trägt der Rückzug der Sinne zur emotionalen Ausgeglichenheit bei?

Im Yoga wird die Schildkröte oft als Metapher für Pratyahara genutzt. Die Schildkröte zieht ihre Gliedmaßen und ihren Kopf in ihren Panzer zurück und schließt die Außenwelt aus, wenn sie Gefahr wittert oder sich zurückziehen will. Ähnlich werden auch bei Pratyahara bewusst die Sinne von den Ablenkungen der Außenwelt zurückgezogen und nach innen gerichtet, um die innere Landschaft des Geistes zu erforschen.

Das Bewusstsein wird viel sensibler, wenn es sich von den Sinnen löst. Die kreative Lösung für ein Problem, der Aha-Moment, der Ausbruch von Kreativität – all das kommt aus dem Teil des Geistes, der nicht durch das, was wir bereits wissen, eingeschränkt ist. Ein Geist, der weniger fragmentiert, empfänglicher und ganzheitlicher ist.

Sowohl unserem Geist als auch unserer Seele dient die Praxis des Pratyahara. Der bewusste Sinnesrückzug ermöglicht es, sich von stressigen Emotionen zu lösen und einen klaren Kopf zu bewahren.

Die Rolle von Pratyahara in der Meditation

Auch als Vorbereitung und Unterstützung für tiefere Meditationspraktiken erfüllt Pratyahara eine entscheidende Rolle. Wenn wir üben, unsere Sinne zurückzuziehen, öffnen sich Wege zu einem meditativen Gemütszustand, die eine Brücke zwischen äußerer und innerer Welt schaffen.

Vorbereitung auf die Meditation:

Um deinen Geist meditationsbereit zu machen, setzt oder legst du dich in eine angenehme Stellung und fängst an, Spannungen loszulassen.

Anschließend regulierst du deinen Atem und integrierst Atemübungen (Pranayama).

Nun sprichst du innerlich eine Affirmation, um deinen Geist in einen meditativen Zustand zu bringen, oder du machst einen Body Scan.

In dieser Tiefenentspannung erfährst du eine Form von Pratyahara. Diese Technik ermöglicht es, den Stress des Alltags loszulassen und den Geist subtil nach innen zu lenken. Studien zeigen, dass Tiefenentspannung nicht nur Stress reduziert, sondern auch helfen kann, sich von Suchtverhalten zu lösen.

Pratyahara während Meditation

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